Kaum eine Frage beschäftigt Organisationen und ihre Führungskräfte aktuell so sehr wie diese. Doch warum stellt sie uns eigentlich vor eine solch große Herausforderung? Vermutlich, weil wir alle nach der langen Zeit der Pandemie in einem Dilemma stecken. Und weil sie weitere Fragen aufwirft. Einige davon trauen wir uns womöglich noch gar nicht offen zu stellen. Doch schauen wir uns zunächst das Dilemma näher an.
Im Team scheiden sich die Geister
Die Menschen in unseren Teams und ihre Lebensumstände sind sehr unterschiedlich. So sind es auch ihre individuellen Bedürfnisse in Bezug auf ihr Arbeitsumfeld. Da gibt es die Teammitglieder, die seit vielen Monaten tagein und tagaus allein in ihren Wohnungen sitzen. Am Küchentisch, im Wohnzimmer oder dem provisorischen Schreibtisch im Schlafzimmer haben sie sich notdürftig eingerichtet. Meist musste zunächst der private PC herhalten, ein halbwegs akzeptabler Stuhl und die Tischlampe, die eben da war. Ein Coachee, der allein und in großer Entfernung zu seiner Familie lebt, erzählte mir neulich, in der Zeit des Lockdowns gab es für ihn Wochen ohne einen einzigen persönlichen Kontakt! Für mich ist das kaum vorstellbar, denn ich gehöre zum anderen Extrem.
Ich habe drei Kinder, zwei davon schulpflichtig. Ins kalte Wasser des Distanzunterrichts geworfen, sind sie los geschwommen. Für mich und meinen Mann hieß das: Internetzugang aufrüsten, zusätzliche Tablets oder Rechner anschaffen. Neben dem eigenen Job und einem Dreijährigen, der nicht in die Kita konnte, haben wir sie bestmöglich unterstützt, damit sie ihre Aufgaben gut bewältigen. Und als Ersatz für Vereinssport, Kumpels und Freundinnen haben wir versucht, sie irgendwie bei Laune zu halten. Das bringt einen schon an die eigenen Grenzen…
Andererseits hat das Arbeiten im Homeoffice auch seine Vorteile: der Arbeitsweg entfällt, nebenher kann die Waschmaschine laufen, in der Mittagspause wird schnell eingekauft und ich kann meine Aufgaben mit deutlich mehr Fokus erledigen, weil mich kein Schwätzchen in der Kaffeeküche ablenkt.
So verwundert es nicht, dass die einen lieber heute als morgen wieder jeden Tag ins Büro möchten und andere sich fragen, warum das überhaupt notwendig ist. “Corona hat uns doch gezeigt, dass es wunderbar funktioniert!”
„Muss ich wirklich wieder jeden Tag ins Büro?„
Aus juristischer Sicht scheint die Antwort einfach. In den meisten Arbeitsverträgen ist der Arbeitsort klar definiert. Aber macht es wirklich Sinn, die Frage mit diesem Argument zu beantworten? Oder ist es vielleicht der richtige Moment, dass wir uns grundsätzlicheren Fragen widmen?
- Weiß ich als Führungskraft eigentlich um die Lebensumstände meiner Leute und was jede:r Einzelne für eine gute Performance braucht?
- Was braucht die zu erledigende Aufgabe eigentlich, um so erfüllt zu werden, dass wir unsere Ziele erreichen?
- Wieviel Präsenz ist nötig, damit Loyalität und Verbundenheit zum Unternehmen entsteht?
- Wie kann ich als Führungskraft auch auf Distanz Zusammenhalt im Team erzeugen?
- Wie viel Vertrauen bringe ich den Menschen entgegen, die für unsere Organisation arbeiten?
- Wie wird die heranwachsende Generation arbeiten und leben (wollen)?
- Wie wichtig ist der persönliche Kontakt mit anderen, damit Menschen ihre Arbeit als sinnvoll empfinden?
- Wollen wir Teammitglieder, die sich mit der Wertschöpfung des Unternehmens verbunden fühlen oder die, denen gerade der persönliche Austausch zu Kolleg:innen fehlt?
- …
Auf der Suche nach Antworten auf all die vielen Fragen dürfen wir ruhig mutig Themen ganz neu denken, uns gemeinsam ausprobieren, Fehler machen und daraus lernen. Eigentlich können wir nur gewinnen: neue Fähigkeiten, (Selbst-) Erkenntnisse und spannende Ideen.
Klingt das nicht verlockend?
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob wir uns überhaupt die richtigen Frage stellen. Und ob wir es uns so leicht machen sollten, uns in der Antwort an Bestehendem zu orientieren. Trauen wir uns hingegen, den Blick auf die dahinter liegenden Themen zu richten, kann dies eine Chance sein, Arbeit wirklich neu zu gestalten und mit einem ganzheitlichen Ansatz in unser Leben zu integrieren.
Bildquelle: Carsten Nachlik
Im nächsten Beitrag: Wie kann ich als Führungskraft auch auf Distanz Zusammenhalt im Team erzeugen?